Mit dem Gummiseil-Start über die Alpen
(aus Albatros INFO September 2014 / Original aus Walter Ackermann "Fliegt mit!" 1937)

Entdeckt von Beat Galliker

Anlässlich des alpinen Forschungslagers auf den „Rochers-de-Naye“ 2042 m.ü.M, östlich. Montreux (VD) vom 3. bis 13. August 1937 startete Hermann Schreiber mit seiner S 18T HB-213 von den „Gummihunden“ abgespickt, in die Weite:

„Seit Tagen schon sind wir Segelflieger auf Rochers-de-Naye versammelt. Am 6. August herrscht über dem ganzen Alpengebiet eine schwache Hochdrucklage mit wolkenlosem Himmel. Eine vom Observatorium durchgeführte Windmessung mit Pilotballon hat bis in eine Höhe von 3000 Metern einen ganz schwachen Nordostwind festgestellt. Meine S18 – eine Schweizer Spalingerkonstruktion mit vierzehneinhalb Meter Spannweite – ist seit 10 Uhr startbereit. Gegen Mittag entstehen an einigen wenigen Stellen die ersten schwachen Thermikwolken. Ich warte noch eine Stunde, um die Thermik sich verstärken zu lassen. Um 1 Uhr spannen die Kameraden das Seil – mein treuer Vogel schwingt sich vom Hang.

Gleich vom Start weg kurve ich in eine Bergmulde, in der ich mich dicht unter der Starthöhe halten kann. Etwa fünf Kilometer von Rochers-de-Naye bildet sich eine Thermikwolke. Ich fliege sie an, finde nach einigem Suchen das richtige Aufwindkamin und schraube mich bis auf 2700 Meter hoch. Die Wolke ist leider flach, so dass mir auch das Hineinziehen keinen weiteren Höhengewinn verschafft. Inzwischen ist aber weiter nördlich über den Tours d’Aï eine weitere Thermikwolke entstanden, auf die ich zuhalte. Die Entfernung beträgt etwa 15 km. Aber meine unter der ersten Wolke entstandene Höhe reicht nicht aus, um den Anschluss herzustellen. Kurz entschlossen kehre ich wieder zur den Rochers-de-Naye zurück, wo ich einiges unter der Starthöhe anlangen und mich langsam wieder hocharbeiten muss.

Nun steuere ich wieder nach Norden unter die zuerst angeflogene Thermikwolke. Sie hat sich inzwischen so verändert, dass ich im Blindflug noch etwa zweihundert Meter mehr Höhe erreiche und nun mit einer Höhe von 2900 Meter den Anschluss an die Wolke über den Tours d’Aï herstellen kann. Unter dieser Wolke gelingt es mir, mich auf über 3000 Meter hochzukurven. Über eine halbe Stunde halte ich mich in ihrer Umgebung auf und beobachte gespannt die Luftverhältnisse in Richtung Diablerets. Ein schwacher Wolkenschaum im Nordosten von Villars verrät mir, dass sich dort drüben irgendetwas bildet. Ich entschliesse mich, meine sichere Aufwindbasis zu verlassen und steuere geradezu die Diablerets an. Wie erwartet, gibt die Wolke Aufwind, aber weniger als ich erhofft hatte. Meine Höhe scheint knapp zu genügen, um im Gleitflug über den Pas de Cheville ins Wallis hinunterzugelangen. Je näher ich den Diablerets komme, umso steiler steigen die Felsen neben mir an, und ich suche einen Ausweg in Richtung Aigle. Ganz dicht an der Felswand der Tête Ronde fängt meine „S 18“ an zu schütteln – ich bekomme Aufwind!

Ich ziehe enge Kurven und schaffe mir die nötige Höhe, um längs den Südhängen der Diablerets ins Wallis hinüber zu wechseln. Über dem Lac de Derborence greifen tückische Abwinde mit 4 Meter Sinkgeschwindigkeit nach meinem Vogel und drücken mich in die Schlucht hinunter. Aber wo Abwind ist, muss nebenan auch Aufwind sein, sage ich mir, und fliege, da vorläufig doch nichts anderes zu tun bleibt, in ursprünglicher Richtung mit ziemlich viel Fahrt weiter. Die Ostflanke der Lizerneschlucht liegt in der prallen Sonne. Ob dort wohl ein Ausweg aus der Klemme winkt?

Und wirklich – bald tragen mich harte Aufwindböen langsam aber sicher hoch und immer höher, so dass ich schliesslich wieder 2800 Meter habe. Neben und über mir kreist ein dichter Schwarm von Bergdohlen, im Wallis „Chouca“ genannt. Es scheint, als staunten sie ihren grossen Bruder an. Mir ist, als wollten sie ihm die Lufttaufe geben. Und in diesen Minuten, wo ich mit den Bergdohlen im Aufwind um die Wette kreise, beschliesse ich, für die Zukunft meinen Vogel „Chouca“ zu nennen.

Tief im Tal liegt der Flugplatz von Sitten. Aber meine Pläne gehen weiter. Ich halte mich immer an der Nordseite des Wallis und erreiche im Gleitflug die Höhe von Montana. Lange kann ich keinen Aufwind mehr finden. Doch plötzlich spüre ich wieder das eigentümliche Schwingen in den Flügeln, das ihn kündet. Ich kreise mich stetig hoch und steige mit anderthalb Meter in der Sekunde immer im selben Thermikschlauch bis auf 3200 Meter. Zwischenhinein gerate ich auch in Abwinde, finde aber nach kurzem immer wieder das richtige Kamin.

alpenflug

In der Ferne taucht Brig auf. Ich überquere das Lötschental, balge mich mit den Böen des Bietschhorn herum und finde endlich wieder etwas Aufwind. Am Rotlauihorn, wo ich mich in 2800 Meter halten kann. Von dieser Basis aus beobachte ich nun den Simplon-übergang. Im Süden der Alpen sind ziemlich viele Thermikwolken bemerkbar, weit im Tal unten zeigen Rauchfahnen Westwind an.

Inzwischen ist es 5 Uhr nachmittags geworden. Nun segle ich über das Wallis hinüber an die Westhänge des Faulhorns. Und was ich kaum zu hoffen gewagt, wird wahr: dicht über den Steinhalden finde ich wieder eine mit Hangaufwind verbundene Ablösung, die mit 300 Meter kostbaren Höhengewinn bringt. Diese Höhe habe ich notwendig gehabt, um über die Simplonpasshöhe an das Breithorn hinüberwechseln zu können.

Hier ändern sich die Luftverhältnisse fast schlagartig. Die Walliser Luft liegt hinter mir. In trüben, undurchsichtigen Luftschwaden schwimmen vereinzelte Wolkenfetzen herum. Es riecht nach Kohlenrauch. Kurze, harte Böen greifen nach meinem Vogel. Es scheint, als wolle uns der Berg nochmals zu Leibe rücken. Tief im Dunkeln, am Fusse unheimlicher Felswände, erkenne ich die Dächer von Gondo und Iselle. Mein Flug führt in gerader Richtung am Camozellhorn vorbei nach Domodossola. Die eben noch unheimlich böige Luft beruhigt sich, und in weichem, leisen Gleitflug erreiche ich in 2500 Meter das weite Tal von Domodossola.

Die Wolkenbasis steht hier drüben nur etwa auf 1900 Meter. Ich sage mir, dass ich mit meiner stolzen Höhe noch ein schönes Stück weit ins Centovalli gleiten kann. – dort werde ich sicher unter den Wolken längs der Nordseite wieder Aufwind finden, um in die Schweiz zurücksegeln zu können. Also: Kurs Ost!

Ich überfliege Santa Maria und Malesco – die untere Wolkenbasis ist erreicht. Und jetzt kommt die überraschende Enttäuschung: statt Höhe zu gewinnen, kann ich mich nur mit Mühe in derselben Höhe halten. Zur Umkehr ist es zu spät – ich bin im Tal gefangen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als im engen Tal weiterzufliegen und irgendwo eine Landegelegenheit zu suchen.

In knapp 100 Meter über Boden komme ich bei einem Dorf über eine kleine Wiese, die etwas ansteigt und von hohen Bäumen umgeben ist. Hier muss ich mich wohl oder über hinsetzen, wenn ich nichts Schlimmeres erleben will. Ich gleite über das Dorf hinweg, streiche in einer Linkskurve zwischen zwei Baumgruppen hindurch und muss anschliessend meinen Vogel in einer ganz engen Rechtskurve schräg an den Hang kleben. Die schwierige Landung läuft noch glimpflich ab; die Sitzpartie meines Rumpfes erhält zwar einen Knacks, aber die übrigen Teile bleiben unbeschadet. Damit ist der fünfeinhalbstündige Flug beendet. Ich kann mit dem Abschluss meiner Alpentraversierung zufrieden sein. Ein Weiterfliegen in der engen Schlucht mit ihren quer über das Tal gespannten, kaum sichtbaren Seilbahnen hätte mir zum Verhängnis werden können.

Kaum bin ich aus meinem Sitz geklettert, sind auch schon die ersten Dorfbuben da. Jetzt bin ich aber gespannt, ob ich auf italienischem oder Schweizer Boden gelandet habe! Ich frage die Buben: “Svizzeri?`“ – und mit einem eifrigen Kopfnicken antworten sie: “Si, si – siamo Swizzeri!“ Das Dorf, bei dem ich gelandet bin, hiess Palagnedra.

So war es also doch noch gelungen: Start mit Gummiseil – Flug über unsere Berge – und Landung in der Schweiz. Ein altes Ziel war endlich erreicht!

Der Knacks aber, den mein Vogel bei der Landung erlitten hat, wird mich vor allzu grossem Übermut bewahren . . .“

 

Mit diesem abenteuerlichen Flug gelingt Hermann Schreiber mit seiner Spalinger S 18T HB-213 am 6. August 1937 die erste Schweizeralpen-Überquerung im freien Segelflug.